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Aug 29

Chemnitz ist ein Warnruf für Deutschland

Zunehmend zwischen die Fronten gerät die Polizei. In Chemnitz standen am Montagabend laut eigenen Angaben den 7500 Demonstranten 591 Polizisten gegenüber. (Bild: Filip Singer / EPA)

Bei den rechtsextremen Aufmärschen in Sachsen hat die Polizei Mühe mit der Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer betont, der Staat sei handlungsfähig.

Nach den rechtsextremen Kundgebungen in Chemnitz debattiert Deutschland über deren Ursachen, über Schuldige und mögliche Konsequenzen. Am Sonntagmorgen war in der sächsischen Grossstadt ein 35-jähriger Deutscher erstochen worden; noch am Nachmittag desselben Tages folgten rund 800 Personen einem Demonstrationsaufruf rechtsradikaler Gruppen.

Nachdem dann am Montag bekanntgeworden war, dass es sich bei den festgenommenen mutmasslichen Tätern um einen 23 Jahre alten Syrer sowie einen 22-jähriger Iraker handelt, versammelten sich am Abend laut Polizei etwa 6000 Teilnehmer einer rechten Kundgebung sowie rund 1500 Gegendemonstranten. Passanten, deren Aussehen ausländisch wirkte, wurden angegriffen. Gegen zehn Teilnehmer der rechten Kundgebung wird mittlerweile ermittelt, weil sie den Hitlergruss gezeigt haben sollen. Insgesamt, so die Chemnitzer Polizei, seien mindestens 20 Personen verletzt worden.

Seehofer unter Beschuss

Am Dienstag äusserten sich zahlreiche Politiker zu den Vorfällen. Vertreter von Grünen und Linken schossen sich dabei vor allem auf den deutschen Innenminister Horst Seehofer (CSU) ein, die bevorstehenden bayrischen Landtagswahlen schienen ihren Schatten auf die Debatte zu werfen: Dass Seehofer zu den Vorfällen schweige, sei skandalös, sagte Konstantin von Notz, der Vizechef der Grünen-Fraktion im Bundestag.

Später am Tag meldete sich Seehofer dann doch noch zu Wort: Die Betroffenheit über die Bluttat sei verständlich, sie rechtfertige aber «unter keinen Umständen den Aufruf zu Gewalt oder gewalttätige Ausschreitungen». Sofern Sachsen es wolle, stehe der Bund «mit polizeilichen Unterstützungsmassnahmen zur Verfügung».

Noch weiter als von Notz ging die Linken-Politikerin Ulla Jelpke, eine frühere Bundestagsabgeordnete, in ihrer Kritik an Seehofer: Dieser sei «in der Pflicht, klarzustellen, dass er keine klammheimliche Sympathie für den Mob in Chemnitz empfindet», sagte sie und erhob damit indirekt den ungeheuerlichen Vorwurf, der CSU-Chef könnte im Stillen mit den Pöblern und Randalierern von Chemnitz einverstanden sein. Die Chemnitzer Demonstranten, so Jelpke, seien «das Produkt einer systematischen Aufhetzung der Bevölkerung durch die Brandstifter von Union und AfD».

Zumindest einige AfD-Politiker müssen sich diesen Vorwurf durchaus gefallen lassen: Noch am Sonntagabend hatte der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier auf Twitter geschrieben: «Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Strasse und schützen sich selber. Ganz einfach!» Um einen Einzelfall handelte es sich bei Frohnmaiers Wortmeldung keineswegs, ähnlich äusserten sich weitere AfD-Politiker: «Das deutsche Wahlvieh zum Schlachten freigeben und tadeln, wenn es sich wehrt . . .», schrieb beispielsweise der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Christian Blex.

Jene in Chemnitz, die meinten, das Recht in die eigene Hand nehmen zu müssen, erhielten damit von der AfD verbalen Rückenwind. «Das Gewaltmonopol hat in Deutschland der Staat – und dies selbstverständlich nicht, um Gewalt gegen seine Bürger auszuüben, sondern um selbige davor zu schützen, dass sie Opfer von Gewalt werden», liess sich demgegenüber der AfD-Chef Jörg Meuthen vernehmen. Wer wollte, konnte dies als Distanzierung von seinen Parteikollegen begreifen.

Polizei zwischen den Fronten

Zunehmend zwischen die Fronten in der Debatte geriet einmal mehr die Polizei. Seit Dresdner Beamte bei einer Kundgebung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung Mitte August Journalisten des ZDF bei der Ausübung ihrer Arbeit behindert haben, wird die sächsische Polizei in Teilen der linken Szene als Feindbild wahrgenommen und pauschal als «Pegizei» verunglimpft.

Ihrerseits klagen Polizisten über Personalmangel: Der jahrelange Abbau von Stellen habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien, erklärte Oliver Malchow, der Chef der Gewerkschaft der Polizei, der «Neuen Osnabrücker Zeitung». Für Einsätze wie in Chemnitz müssten mehrere hundert Beamte in Reserve bereitstehen, so Malchow. Dies sei «vollkommen unrealistisch». Laut Chemnitzer Polizei standen den 7500 Demonstranten vom Montagabend 591 Polizisten gegenüber. Augenzeugen berichteten, die Beamten seien von der Menge an Randalierern überfordert gewesen.

Am Dienstag trat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in Dresden vor die Presse. «Die politische Instrumentalisierung» des Chemnitzer Mordes durch Rechtsextreme sei abscheulich, sagte er, und: «Wir stellen uns vor unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.» Gleichzeitig bemühte er sich, den Eindruck zu zerstreuen, Sachsen entgleite das staatliche Gewaltmonopol: «Der sächsische Staat ist handlungsfähig, und er handelt.»

Quelle: Neue Züricher

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