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Mai 19

Mittelmeerroute: Steigende Flüchtlingszahlen lösen Alarmstimmung in Europa aus

Das Wetter ist gut, die Flüchtlingszahlen auf dem Mittelmeer steigen. EU-Regierungen wollen den Grenzschutz in Libyen stärken. Doch in dem Land herrscht Chaos. Sind die Pläne realistisch?

Es ragt nur noch die graue Bugspitze aus dem Wasser. Daneben treiben einige Leichen. Von den übrigen der über 250 Flüchtlinge, die dicht aneinandergedrängt im Schlauchboot saßen, gibt es keine Spur mehr. Die leblosen Körper liegen auf dem Meeresgrund oder treiben irgendwo auf hoher See. Ein Drama, das auf dem Mittelmeer zwischen libyscher und italienischer Küste längst zum Alltag geworden ist.

Es ist die tödliche Folge des nicht abebbenden Flüchtlingsstroms, den die EU endlich in den Griff bekommen will. Laut neuesten Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex erreichten von Januar bis April etwa 37.200 Migranten über das Mittelmeer die italienische Küste – ein Anstieg von mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und die warme Jahreszeit mit ruhiger See hat gerade erst begonnen.

In Brüssel und in den EU-Hauptstädten herrscht Alarmstimmung. „Man muss klar sagen: Die Europäische Union ist auf eine neue Flüchtlingswelle nicht gut vorbereitet“, sagt ein hoher EU-Diplomat. „Unsere bisherigen Maßnahmen sind unzureichend“, schrieben Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein italienischer Kollege Marco Minniti bereits vergangene Woche in einem Brief an die EU-Kommission. „Die zentrale Mittelmeerroute wird auch im Jahr 2017 am stärksten genutzt.“

EU setzt auf eigene Soldaten

Das Problem drängt, die Wahlen in wichtigen Mitgliedsländern wie Deutschland und Österreich stehen vor der Tür. Am Donnerstag dürften die Innenminister der EU bei ihrem Treffen in Brüssel auch darüber sprechen, was man noch unternehmen kann, um im Transitland Libyen die Grenzen zu kontrollieren.

Schon jetzt gibt die EU Millionen aus, um das chaotische Land zu stabilisieren: 120 Millionen Euro für 37 Projekte zum Aufbau eines Gesundheitssystems, für Sicherheitsmaßnahmen und zur „Förderung der Zivilgesellschaft“ hat Brüssel zuletzt bereitgestellt. Eine Mini-Truppe der EU von etwa 20 Leuten soll zudem libysche Behörden beim Aufbau von Polizei und einem funktionierenden Justizsystem beraten.

Viel ausrichten kann diese Mission mit dem Namen EUBAM Libyen aber nicht: Die Mitarbeiter sitzen aus Sicherheitsgründen in der tunesischen Hauptstadt Tunis, weit weg vom eigentlichen Einsatzort. Brüssel setzt dafür jetzt umso stärker auf eigene Soldaten, Grenzschützer und Schiffe.

Ausbildung für libysche Grenzschützer

So bilden Experten im Rahmen der EU-Mission „Sophia“ seit knapp einem Jahr auf dem Mittelmeer libysche Grenzschützer aus, zwischen Libyen und Italien patrouillieren Schiffe der EU-Staaten, die Menschenschmuggler dingfest machen und die Flüchtlingsboote zerstören sollen. Der Erfolg ist allerdings bescheiden: Die EU-Soldaten können aus rechtlichen Gründen erst dann aktiv werden, wenn die Schleuser die Schmugglerboote längst verlassen haben.

Hinzu kommt: Die libysche Küstenwache ist häufig unzuverlässig: „Sie sollte die Migranten zurück nach Libyen bringen oder die Boote gar nicht erst ablegen lassen“, erklärt Mattia Toaldo vom European Council on Foreign Relations. „Viele Mitarbeiter der Küstenwache sind jedoch korrupt und arbeiten mit den Schmugglern zusammen“, sagt er. Und fügt hinzu: „Sie verkaufen dann ein zweites Ticket an die Flüchtlinge, die vorher noch zur Umkehr gezwungen wurden.“

Jetzt rückt die Südgrenze Libyens immer mehr in den Fokus der Europäer. Der neueste Plan: Die Flüchtlinge sollen Libyen möglichst gar nicht mehr erreichen. „Die Flüchtlinge müssen vor der Sahara aufgefangen werden“, sagt die CSU-Innenexpertin im EU-Parlament, Monika Hohlmeier. De Maizière und Minniti fordern „den schnellstmöglichen Aufbau einer EU-Mission an der Grenze zwischen Libyen und Niger“.

Österreich fordert EU-Einsatz an der Südgrenze

Und auch Österreichs Innenminister Wolfgang Sobotka sagte der WELT: „Wenn man es schafft, schon den Zustrom an Libyens Südgrenze zu kappen, wird das zu einer massiven Dezimierung der auslaufenden Flüchtlingsboote in Richtung Europa führen.“ Sobotka unterstützt die Pläne aus Berlin und Rom. „Nachdem auf Initiative von Außenminister Sebastian Kurz die Balkanroute geschlossen werden konnte, muss nun das Mittelmeer stärker in den Fokus rücken. Die Forderung aus Deutschland und Italien nach einem EU-Einsatz an der Südgrenze Libyens ist daher auf der ganzen Linie zu unterstützen.“ Sobotka sagte, er stehe in dieser Frage mit seinen europäischen Kollegen im ständigen Austausch. „Wir müssen Lösungen vorantreiben.“

Doch das Vorhaben ist schwierig. Libyen und Niger sind in Afrika die Haupttransitländer für Flüchtlinge. Die Grenze zwischen den beiden Staaten ist ein Brennpunkt. Obwohl die Zahl der Grenzübertritte zuletzt  zurückgegangen ist, weil die Regierung in Niger mit finanzieller Unterstützung der Europäer ihren Kampf gegen Schleppernetzwerke deutlich verstärkt hat, haben die Behörden die Grenze nicht unter Kontrolle.  Wer durchkommt, flüchtet über die nigrische Stadt Agadez durch die Sahara in die rund 2300 Kilometer entfernte libysche Oase Sabha. Von dort geht es weiter an die rund 800 Kilometer entfernte Küste.

Die gemeinsame Grenze von Libyen und Niger ist 342 Kilometer lang. Das klingt wenig, dafür ist es jedoch ein völlig unüberschaubares Wüstengebiet und äußerst schwer zu kontrollieren. Beiderseits der Grenze regieren Stämme und Milizen, die vom florierenden und lukrativen Schmuggel von Drogen, Zigaretten, Benzin und Menschenhandel leben. In Sabah gibt es sogar einen sehr gut laufenden Sklavenmarkt, auf dem Flüchtlinge für 700 Dollar angeboten werden.

Schießereien zwischen den Stämmen

Regelmäßig kommt es in Sabha zu Schießereien zwischen den Stämmen der Tebu und Tuareg sowie der Araber vom Awald Suleiman Stamm. Alle sind untereinander bis auf Blut verfeindet, nur das illegale ‚Business‘ und das gemeinsame Profitinteresse verbindet. Anfang April hat Italien versucht, zwischen den Stämmen zu vermitteln und das Gebiet sicherer zu machen. Jetzt fordert Rom aber mehr Hilfe aus der EU. Wer diese Grenze sichern will, ist auf die Kooperation der Stämme angewiesen.

„Das Grundproblem besteht darin, dass die bis an die Zähne bewaffneten Stämme und Milizen das Sagen haben“, analysiert Günther Meyer, Nordafrika-Experte an der Universität Mainz. Die südliche Grenze sei für sie lukrativ, und der Menschenschmuggel habe als Haupteinnahmequelle eine große wirtschaftliche Bedeutung. Sie werden diese auch gegen Zahlungen der EU kaum aufgeben. „Abkommen mit Stammesführern sind nicht effizient.“

Eine Ordnungsmacht, die den lokalen Warlords Einhalt gebietet, gibt es in Libyen nicht. Es herrscht Bürgerkrieg. Der vom Westen anerkannte Regierungschef Farradsch kontrolliert nur einen kleinen Teil des Landes. Auf die Südgrenze hat er keinen direkten Zugriff. Dort herrschen Chaos und Gewalt. „Wir können in das Gebiet derzeit keine EU-Mission schicken“, sagt ein erfahrener EU-Beamter. Aber die Hauptstädte machen Druck. Brüssel sitzt in der Klemme. Viele Fragen sind offen: Wie gefährlich wird der Einsatz? Werden die Mitgliedsländer überhaupt genügend Personal finden? Wie soll die Mission genau aussehen? Nur in einem Punkt sind sich alle einig: Der Flüchtlingsstrom soll eingedämmt werden.

Quelle: Welt

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