«Ich wollte ihm nichts tun», liess der Beschuldigte durch den Übersetzer ausrichten. «Er hat sich selber verletzt.» Vorgeworfen wurde dem jungen Mann aus Sri Lanka, in der Asylbewerberunterkunft Riniken einen Landsmann mit einem Küchenmesser attackiert zu haben.

Gemäss Anklage war der Beschuldigte, der in Handschellen und Fussfesseln von zwei Polizeibeamten in den Gerichtssaal in Brugg eskortiert wurde, mit dem Opfer in einen verbalen Streit geraten. Der Grund lag darin, dass das Opfer den Beschuldigten als «Transe» bezeichnet hatte. Mitbewohner konnten den Streit vorerst stoppen. Es gelang ihnen auch zu verhindern, dass der Beschuldigte mit einem Jätwerkzeug auf seinen Kontrahenten losging. Sie schafften es zudem, den Beschuldigten auf sein Zimmer zu bringen.

Später tauchte er jedoch wieder auf, nachdem er in der Küche ein Messer – «Marke Ikea, Klingenlänge 12,8 cm, Gesamtlänge 26,8 cm, glatter Schliff», so die Anklageschrift nüchtern – behändigt hatte. Er begab sich zu seinem Kontrahenten. «Beim Geschädigten», so die Anklage, «zog er das Messer hervor und führte damit, von oben, mindestens zwei Stichbewegungen gegen den Oberkörper des Geschädigten aus.» Dieser erlitt Schnittverletzungen am Handgelenk und unterhalb der Achsel.

Hänseleien und Beleidigungen

«Er kam mit dem Messer auf mich zu und wollte mich stechen», erklärte das Opfer in der Befragung durch Gerichtspräsident Sandro Rossi. Es sei möglich, dass er den Beschuldigten als «Schwuchtel», «Transe» oder «Tunte» tituliert habe, räumte er ein. Er habe das aber nicht so gemeint. Beide seien sie zudem alkoholisiert gewesen. «Der Beschuldigte war ein guter Kollege», sagte er und zog Strafanzeige und Zivilforderung zurück. Trotz hartnäckigem Nachhaken des Gerichtspräsidenten schienen die insgesamt drei Zeugen vieles nicht zu wissen. Deutlich spürbar wurde auch ihre Zurückhaltung, sich zum Thema Homosexualität zu äussern.

Sie – das Opfer und er – seien anfänglich sehr gute Freunde gewesen, erklärte der Beschuldigte, der zwischendurch schluchzte und schniefte. Später habe sich das Opfer von ihm distanziert und ihn wegen seiner Homosexualität zu hänseln begonnen. Am fraglichen Abend habe ihn das Opfer beleidigt. Es sei zu einem Gerangel gekommen. Zum Gartenwerkzeug habe er gegriffen, um seinen Gegner einzuschüchtern. Ob er gedroht habe, sein Opfer «abzuschlachten», wisse er nicht mehr genau.

Zur Attacke mit dem Messer sagte er, dass er das Messer bei sich gehabt habe, weil er Früchte habe schälen wollen. Das Opfer habe ihn belästigt und begonnen, ihn zu schlagen und am Hals zu packen. Dabei habe sich das Opfer am Messer verletzt. «Ich wollte nicht, dass er verletzt wurde», beteuerte der Beschuldigte. «Ich wollte einfach, dass er mich loslässt.»

Verletzungs-, nicht Tötungsabsicht

«Die unmittelbare Vorgeschichte ist zentral für die Beurteilung des Falls», stellte der Staatsanwalt fest. «Die Tötungsabsicht lässt sich daraus ableiten.» Es könne keine Rede davon sein, dass das Opfer sozusagen ins Messer gelaufen sei. «Die Tötung war beabsichtigt – sie ist nicht einfach in Kauf genommen worden», betonte der Ankläger. «Es handelt sich um versuchte vorsätzliche Tötung.» Er forderte eine unbedingte Freiheitsstrafe von 5 Jahren sowie eine Landesverweisung für 10 Jahre.

Der Verteidiger beantragte Freispruch unter Entschädigung von 200 Franken für jeden Tag Haft, den sein Mandant verbüsst hat. Eventualiter sei der Beschuldigte wegen einfacher Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe und subeventualiter zu einer bedingten Freiheitsstrafe zu verurteilen. Auf die Landesverweisung sei zu verzichten. Der Verteidiger machte geltend, dass sein Mandant angegriffen worden sei und sich gewehrt habe. «Mein Mandant wurde blossgestellt und gedemütigt», erklärte er. «Er wollte nur in Ruhe gelassen werden.»

Das Gericht sprach den Beschuldigten zwar vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung frei. Es verurteilte ihn aber wegen versuchter vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 16 Monaten. Dabei werden ihm die 383 Tage Untersuchungshaft respektive vorzeitiger Haftantritt angerechnet. Die Mehrheit des Gerichts verzichtete darauf, eine Landesverweisung auszusprechen, nachdem das Asylgesuch des Beschuldigten abgewiesen worden ist.

Beim Sachverhalt ging das Gericht davon aus, dass der Beschuldigte über Monate immer wieder provoziert worden war und nach verschiedenen Eskalationsstufen schliesslich zum Messer griff. Dass er das Messer behändigt habe, um Früchte zu schälen, kaufte ihm das Gericht nicht ab. Rückschlüsse aus dem Handlungsablauf und ein rechtsmedizinisches Gutachten führten das Gericht dazu, dass sich zwar keine Tötungs-, aber eine Verletzungsabsicht nachweisen lasse.

Quelle: Aargauer Zeitung