
DER ANGEKLAGTE: Muharrem C. verbirgt sein Gesicht vor den Kameras. Der Thai-Boxer hat einen Fußgänger erschlagen. Quelle: Dröse
Das Verbrechen löste bundesweite Empörung aus. Ein Radfahrer tötet einen Fußgänger, weil er ihm vor die Räder gelaufen ist. Der Prozess begann mit einem Geständnis. Noch bleiben Fragen offen.
Hannover
Der spektakuläre Prozess um den Tod eines Fußgängers (40) begann am Dienstag mit einer Überraschung. Muharrem C. (28) betrat als freier Mann den Gerichtssaal H 2 im Landgericht. Der Haftbefehl sei vergangene Woche außer Vollzug gesetzt worden, weil weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr bestehe, erklärte Gerichtssprecher Hans-Christian Rümke. Anwalt Fritz Willig, er vertritt die Eltern des Todesopfers, meinte dazu nur: „Diese Entscheidung ist nicht nachvollziehbar.“
Muharrem C. ist wegen Totschlags angeklagt. Im Gericht gestand er, den Fußgänger am 8. Oktober 2018 in der Limmerstraße (Linden) erschlagen zu haben. „Ich hatte nie die Absicht zu töten“, sagte er. Um genau diese Frage kreist der Prozess. Denn der Angeklagte ist Thai-Boxer, für seine Kampfschule warb er sogar in einem Video. Ein Zeuge (27) meinte: „Ich habe noch nie solche Schläge mit einer solchen Präzision und Wucht gesehen.“ Der Angeklagte habe beidhändig geschlagen.
Täter und Opfer gerieten durch Zufall aneinander
Täter und Opfer kannten sich nicht. Der 40-Jährige war dem Angeklagten vor das Rad gelaufen. Er hat in sein Handy geschaut. Die Männer gerieten in Streit; der Angeklagte beleidigte seinen Kontrahenten als „Hurensohn“. Der Zeuge ging dazwischen. Die Situation beruhigte sich nur kurzfristig.
Dann habe der Kampfsportler bemerkt, dass sein Kopfhörer bei dem Gerangel kaputt gegangen sei. Er lief hinter seinem Kontrahenten her. Zu diesem Zeitpunkt sei die Aggressivität nur noch vom Angeklagten ausgegangen. Vor einem Gemüseladen habe der Angeklagte dann seinem Kontrahenten etwa vier Mal mit den Fäusten ins Gesicht zu Boden geprügelt. Als der 40-Jährige wieder aufstehen wollte, habe Muharrem C. von oben wieder zugeschlagen, erklärte der Zeuge. Der junge Mann musste seine Aussage wegen eines Weinkrampfs unterbrechen, so sehr quälte ihn die Erinnerung an den 8. Oktober 2018. Das Opfer fiel ins Koma und erlag drei Tage später seinen Hirnverletzungen.
Angeklagter mit kahl rasiertem Schädel
Der Angeklagte kam ganz in schwarz gekleidet in den Gerichtssaal. Mit seinem kahl rasierten Schädel, dem Vollbart und seinem schwarzen Kapuzenpulli wirkt er wie ein Türsteher. Sein Leben sei von Drogensucht geprägt, sagt er. „Mit 17 Jahren habe ich angefangen, Kokain zu schnupfen“, heißt es in einer Erklärung des Angeklagten. Zum „Runterkommen“ habe er regelmäßig gekifft. Zur Tatzeit habe er 300 bis 350 Euro in der Woche für Rauschgift ausgegeben – bei einem Monatsverdienst von etwa 2000 Euro. Seine Ehe habe wegen seines Konsum gekriselt. Im August habe er zudem jeden Tag mit dem Anruf aus der Medizinischen Hochschule gerechnet: Seine Frau hatte eine Frühgeburt, beim Baby ging es um Leben und Tod.
Und so fuhr Muharrem C. an jenem Herbsttag durch Linden auf dem Weg zur Sparkasse. Er wollte Geld abheben, um Kokain zu kaufen. Doch er hatte die Euroscheck-Karte vergessen und war sehr verärgert darüber. In diesem Zustand lief ihm der 40-Jährige vor das Rad. Zeugen schilderten, dass der Angeklagte während der Tat nicht „mehr zugänglich“ oder „blind vor Wut“ gewesen sei. „Ich kann mich heute selber nicht mehr verstehen“, meinte der Kampfsportler zu Prozessbeginn.
Verminderte Schuldfähigkeit?
War der Mann während des Verbrechens vermindert schuldfähig? Auch darum geht es im Prozess. Im seinem Blut fanden sich nur Reste von Cannabis. Eine Droge, die eher ruhig als aggressiv macht. Hat der Angeklagte seine Drogensucht übertrieben? Er arbeitete seit 2012 ohne Beanstandung als Sattler in einem Kfz-Zulieferbetrieb.