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Jan 09

Warum Deutschlands öffentlich-rechtliche Riesensender eine Schrumpfkur benötigen

Das «Oma-Gate» des Westdeutschen Rundfunks war kein Ausrutscher. Die grösste gebührenfinanzierte Anstalt des Landes begreift sich als weltanschauliche Orientierungsmaschine, die dem Publikum die Teilnahme an gesellschaftlichen Leben überhaupt erst möglich macht. Ihre Anmassung ist Programm.

Wer nicht wusste, dass der Westdeutsche Rundfunk einen Kinderchor hat, der weiss es jetzt. Die halbe Republik hat inzwischen vermutlich das Video gesehen, in dem die Kleinen ihre und andere Omas zu «Umweltsäuen» erklären, oder zumindest davon gehört. Ebenso kennt man jetzt jenen Mitarbeiter des Senders, der Deutschlands Omas zusätzlich zu «Nazisäuen» gemacht hat. Tausende aufgeregte Tweets, zig politische Stellungnahmen und eine Handvoll mal mehr, mal weniger überzeugende Entschuldigungen später könnte man das «Oma-Gate» getaufte Fiasko als Einzelfall abbuchen. Aber das wäre falsch.

Die Diskussion sollte jetzt erst beginnen. Denn dem WDR ist nicht einfach nur ein Fehler unterlaufen. Der Riesensender, mit knapp 4300 festen Mitarbeitern der grösste des Landes und, nach der BBC, der zweitgrösste des Kontinents, ist selbst ein Fehler. Um das zu erkennen, muss man erst das gebührenfinanzierte System als solches und dann den WDR im Besonderen in den Blick nehmen.

Wenn die Deutschen über ihren öffentlichrechtlichen Rundfunk sprechen, erinnern die Diskussionen schnell an die Komödie «Und täglich grüsst das Murmeltier», in der Bill Murray ein und denselben Tag wieder und wieder durchleben muss. Doch während der Filmheld irgendwann eine Entwicklung zum Besseren durchläuft und seinem Schicksal am Ende entrinnt, kommt die Debatte in Deutschland seit Jahren kein Stück voran. Die einen verweisen gebetsmühlenartig auf die Grösse und die Kosten des teuersten Rundfunksystems der Welt; viele beklagen auch eine linke Schlagseite. Die Gegenseite verweist auf Nachrichtensendungen oder aufwendige Auslandsreportagen und erklärt, das Publikum müsste ohne öffentlichrechtliche Sender auf derlei verzichten. Es sind in der Regel Mitarbeiter oder Personen des öffentlichen Lebens, die sich den Sendern verpflichtet fühlen, mal aus wirtschaftlicher Abhängigkeit, mal kraft eines Aufsichtsamtes.

Ein anderes, breit akzeptiertes System wäre möglich

Beide Seiten haben berechtigte Argumente, weshalb es leichtfällt, aneinander vorbeizureden. Ja, öffentlichrechtliche Nachrichtensendungen und Reportagen sind in der Regel besser als die Angebote der privaten Wettbewerber, und es wäre ein Verlust, wenn sie verschwänden. Und ja, der gesamte Apparat ist zu gross, zu teuer und, stimmt schon, in der politischen Tendenz oftmals einseitig. Vieles, was bei ARD, ZDF und den sogenannten Dritten angeblich zur medialen Vollversorgung gehört, ist ausserdem mittelprächtig bis schlecht gemachte Unterhaltung, die der freie Markt in besserer Qualität bereithält. Hier besteht keine Versorgungslücke.

Warum also ist kein Kompromiss möglich? Der gebührenfinanzierte Rundfunk könnte sich auf das konzentrieren, was der freie Markt nicht bereithält, also seriöse und umfassende Fernseh- und Radionachrichten, er würde dabei auf Neutralität achten und auf alles andere verzichten. Das Ergebnis wäre ein schlankes, aber breit akzeptiertes System.

Der erste Grund ist der Rundfunkstaatsvertrag (hier in aktueller Fassung abrufbar). Mit dem Regelwerk verständigen sich die Bundesländer, welche die Medienhoheit in Deutschland haben, auf gemeinsame Standards. Für die gebührenfinanzierten Anstalten ist Paragraf elf entscheidend, er regelt ihren «Auftrag». Die Sender haben «in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben», heisst es dort. «Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen.»

Selbst die FDP fordert nur Korrektürchen

Auf dieser Grundlage ist bisher jeder Versuch gescheitert, der auf eine echte Verschlankung abzielt. «Schon mal in den Rundfunkstaatsvertrag geschaut?», hört man dann. Als wäre der Vertrag eine heilige Schrift, die niemand infrage stellen darf. Zu dem sehr weit gefassten Verständnis medialer «Grundversorgung» kommt eine «Bestands- und Entwicklungsgarantie», die unter anderem dafür sorgt, dass die Sender heute auch im Netz überall dabei sein wollen, weil sie ihr Publikum von morgen sonst angeblich nicht mehr erreichen können.

Der Staatsvertrag ist eine Hürde, aber keine unüberwindbare. Es müsste sich nur eine Landesregierung finden, die bereit wäre, aus dem Chor der umfassenden Grundversorger auszuscheren. Eine solche ist derzeit allerdings nicht in Sicht. Selbst die FDP fordert allenfalls Korrektürchen. Die Bundesregierung möge sich bei den Bundesländern dafür einsetzen, dass der gebührenfinanzierte Unterhaltungsbegriff «konkretisiert» werde, hiess es jüngst in einem Antrag der Bundestagsfraktion. Unterhaltung solle «vornehmlich der Vermittlung von Bildung, Information, Kultur und Beratung dienen». Man darf sich vorstellen, dass die Unterhaltungschefs der Sender sehr entspannt waren, als sie das gelesen haben. Derart schwammig formulierte Anregungen gefährden gewiss keines der bestehenden Formate. Zur Not sagt Helene Fischer bei ihrer nächsten quietschigen Primetime-Gala zwischendurch einfach, dass Schulschwänzen doof ist. Bildungsauftrag erfüllt.

Der Kern des Problems (das mit dem eingangs erwähnten «Oma-Gate» nur auf besonders schrille Weise deutlich wurde) liegt im Selbstbild. Anstalten wie der WDR wollen nicht einfach nur ein «Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung» sein, wie es ebenfalls im Staatsvertrag heisst. Sie wollen der Faktor sein. Nicht eine Stimme, sondern die Stimme. Wer das nicht glaubt, muss nur einen Blick in den aktuellen Geschäftsbericht des WDR werfen. In dem Bild, das bei der Lektüre entsteht, sind Zuschauer und Hörer keine souveränen Bürger, sondern Teile eines Publikums, das ohne öffentlichrechtliche Betreuung aufgeschmissen wäre.

Orientierung für jede Lebensphase

«Wir sind der Kitt für das Zusammenleben», heisst es da. Und an anderer Stelle: «Gemeinsam wollen wir das Leben jedes Einzelnen jeden Tag ein bisschen wertvoller machen.» Der Intendant selbst erklärt: «Wir ermöglichen den Menschen in Nordrhein-Westfalen, an gesellschaftlichen Diskussionen teilzunehmen.» Dieser Sound zieht sich durchs Dokument. Der Radiosender WDR 2 «begleitet die Menschen durch den Tag und durch alle Facetten ihres Lebens», WDR 4 sorgt «rund um die Uhr für ein gutes Gefühl», WDR Cosmo ist «Europas aufregendste Verbindung in die Welt der globalen Subkulturen», der Kindersender Kiraka nimmt sein Publikum bei dessen «ersten Medienerfahrungen kompetent an die Hand», das WDR-Sinfonieorchester «prägt auf besondere Weise die Musiklandschaft Nordrhein-Westfalens». Von ganz jung bis alt, vom Instagram-Kanal «Mädelsabend» bis zum Schunkelkabarett «Mitternachtsspitzen»: Der WDR lässt sein Publikum in keiner Lebens- und Gemütsphase allein. Bei so einem Anspruch ist es nur nachvollziehbar, dass der Sender seine jährlichen Gebührenerträge von rund 1,2 Milliarden Euro nicht als gigantisches Geschenk der Bürger, sondern als Mindestausstattung begreift.

Die allem zugrunde liegende Botschaft des WDR ist dabei immer und ausnahmslos die Stimme des Zeitgeists. Das fängt bei Gendersternchen im Geschäftsbericht an und hört beim Klimaschutz nicht auf. Jede Wette: Der Leiter des WDR-Kinderchors hat nicht im Glauben gehandelt, eine gewagte Satire zu produzieren, als er die deutsche Oma zur «Umweltsau» machte. Er hat sich als Teil einer Orientierungsmaschine begriffen, die ihr Publikum mit weltanschaulichem Anspruch an die Hand nimmt.

Diese Anmassung ist das Thema. Der öffentlichrechtliche Rundfunk verwandelt sein Publikum nicht in mündige Bürger. Das sind sie schon.

«Der andere Blick» erscheint immer freitags und ist allen NZZ-Abonnenten zugänglich.

Quelle: nzz

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