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Apr 30

Islamische Notfallbegleiter: Wenn die Mund-zu-Mund-Beatmung zur Sünde wird


Seit zehn Jahren werden deutschlandweit muslimische Notfallbegleiter ausgebildet – und dorthin geschickt, wo Menschen extremes Leid erleben
Quelle: dpa

Islamische Notfallbegleiter sollen Angehörigen bei Suizid und Unglücken beistehen. Doch sie helfen oft auch dort, wo Rechtsstaat und Glaube aufeinanderprallen. Wenn etwa eine Frau mit Kopftuch vom Notdienst entkleidet werden soll.

Im Angesicht des Todes geraten Rechtsstaat und Muslime manchmal aneinander. Dazu muss ein Arzt auf dem Totenschein nur das Feld „ungeklärte Todesursache“ ankreuzen. Ab diesem Moment setzt ein von der Gerichtsmedizin vorgegebener Ablauf ein. Dann versiegelt die Polizei den Sterbeort. Und die Leiche wird zur Obduktion abtransportiert. Ab dem Todesmoment setzt aber auch ein nach islamischer Tradition vorgesehener Ablauf ein: Die Angehörigen wollen sich betend vom Verstorbenen verabschieden. Der Tote soll gewaschen und für das Grab vorbereitet werden. Und seine Leiche soll, wenn irgend möglich, unversehrt bleiben. Nur: wie – wenn der Leichnam gerade zur Obduktion abtransportiert wird?

Die Angehörigen hoch emotionalisiert, die Einsatzkräfte gestresst – „in solchen Situationen kann es zu Konflikten kommen“, bestätigt Thomas Lemmen, der Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Gesellschaft Deutschlands (CIG). Für solche Fälle gibt es muslimische Notfallbegleiter. Sie stellen das islamische Pendant zu christlichen Notfallseelsorgern dar und sind Experten darin, angespannte Situationen dieser Art zu befrieden. Beispielsweise indem sie die Trauernden davon überzeugen, es sei auch von Koran und Sunna vorgeschrieben und obendrein in ihrem Interesse, die Todesursache aufzuklären. Oder indem sie mit den Polizisten aushandeln, vor dem Abtransport noch eine kurze Abschiedszeremonie dazwischenzuschieben.

Seit zehn Jahren werden deutschlandweit muslimische Notfallbegleiter ausgebildet – und dorthin geschickt, wo Menschen extremes Leid erleben. Meist rufen die Rettungskräfte sie an den Einsatzort, um bei Selbstmorden, Kindstoden oder Massenunglücken wie dem German-Wings-Absturz 2015 Betroffene zu begleiten und Konflikte zu moderieren.

Ausgebildet werden die ehrenamtlich arbeitenden Muslime kostenlos, meist von hauptberuflichen christlichen Seelsorgern. Doch so erstaunlich es klingt, diese Projekte stoßen aus unterschiedlicher Richtung auch auf Ablehnung. Zum einen warnen Islamskeptiker seit Jahren, muslimische Notfallseelsorge führe ebenso wie islamische Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge zur Islamisierung des weltlichen Rechts und Wohlfahrtssystems. Zum anderen gibt es aber auch in muslimischen Gemeinden einzelne Akteure, die eine Notfallbegleitung als überflüssig ablehnen. Ähnlich wie beim Streit über muslimische Altenheime argumentieren sie, in der Not besäßen Muslime starke Familien, gute Nachbarn und rechtschaffene Freunde. Wozu brauche man da zusätzlich Experten?

Kein flächendeckendes Angebot

Womöglich bremsen derlei Vorbehalte den Ausbau der islamischen Notfallbegleitung. Jedenfalls kann hierzulande auch nach einem Jahrzehnt von einem flächendeckenden Angebot keine Rede sein. Aber stoppen lässt sich die Erste Hilfe für die muslimische Seele nicht mehr, dazu sei sie viel zu wichtig. Und dazu seien die Vorbehalte auch viel zu abwegig. Diese Ansicht vertraten diese Woche zahlreiche Experten, die auf Einladung der CIG zu einer Zehn-Jahres-Bilanz im rheinischen Siegburg zusammenkamen.

Für ihre Zuversicht glauben sie gute Gründe zu besitzen. So waren es ja gerade Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte, die die CIG aufforderten, einen solchen muslimischen Notfallservice aufzubauen, wie CIG-Mitarbeiterin Melanie Miehl berichtet. Die Einsatzkräfte hätten sich überfordert gefühlt. Einmal, erzählt Miehl, seien sie etwa zum Selbstmordversuch einer jungen Frau mit Kopftuch gerufen worden. Als sie die Frau für Wiederbelebungsmaßnahmen entkleideten, sei es zu schweren Auseinandersetzungen mit den Angehörigen gekommen. Sie wollten eine solche Entblößung nicht dulden. Von solchen Erlebnissen wussten auch andere Konferenzteilnehmer zu berichten. Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzmassage und andere Reanimationsmaßnahmen, zumal wenn sie von männlichen Rettungskräften an einer Frau durchgeführt wurden, seien für einige Angehörige ein Grund zu handfestem Widerstand.

Hier „können Notfallbegleiter viele Konflikte entschärfen und Brücken bauen zwischen geschockten Verwandten und überforderten Rettungskräften“, berichtet die CIG-Vorsitzende Hülya Ceylan aus Duisburg. Wobei sie sich auf das auch islamisch herleitbare Motto „Not bricht Gebot“ berufen. Soll heißen: Wo das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht, werden sonst gültige muslimische Gebote für die Wahrung der Scham zwischen Mann und Frau suspendiert.

Natürlich geht es nicht immer um drohende Obduktionen und den Kampf um den Leichnam. Bisweilen müssen die muslimischen Begleiter auch schlicht Ordnung und Ruhe schaffen, wenn orientalische Trauersitten die Nerven von Angehörigen und Einsatzkräften strapazieren. Etwa als Frau Ceylan einst zu einer türkischstämmigen Familie gerufen wurde. Auf dem Wohnzimmerboden lag der verstorbene Familienvater. Um ihn herum, in der gesamten Wohnung, im Treppenhaus und noch auf der Straße rannten Dutzende Nachbarn, Freunde und Neugierige hin und her, Kinder schrien, Frauen weinten bitterlich, nebenan bellten Hunde. Der Notarzt konnte sich vor lauter Gedränge und Geschiebe nicht um den Toten kümmern. Und die verzweifelte Witwe sehnte sich nach Stille.

In diesem Moment war Ceylan weniger als Muslimin denn als türkisch sprechende Organisatorin und Kommunikatorin gefragt. Erst komplimentierte Ceylan in ihrer lilafarbenen Weste mit dem Schriftzug „Notfallbegleiter“ alle Nachbarn aus dem Wohnzimmer, dann beauftragte sie ein paar Frauen, die Kinder einzusammeln und nebenan zu betreuen. Die Dritten ließ sie Tee kochen und die Vierten das Treppenhaus räumen – bis die Einsatzkräfte endlich arbeiten und die engsten Angehörigen in Stille trauern konnten.

„Ob es um das Überbringen einer Todesnachricht geht oder um das Gespräch mit traumatisierten Angehörigen – eine solche Arbeit können ungeschulte Nachbarn, Verwandte und Freunde, aber auch Imame in aller Regel nicht angemessen leisten. Dafür muss man erst einmal lernen, welche Schockreaktionen zu erwarten sind oder wie man in Extremsituationen kommuniziert“, sagt CIG-Experte Lemmen. Daher brauche es die Schulung muslimischer Notfallbegleiter. Von denen hat die CIG gemeinsam mit der evangelischen Kirche im Rheinland seit 2008 über 120 ausgebildet (jeweils in 80-Stunden-Seminaren, die etwa 10.000 Euro kosten).

Suizide für Muslime besonders schockierend

Aber nicht nur die Skepsis stramm traditioneller Muslime halten die Notfallbegleiter für überholt. Noch viel mehr gilt das für die Sorge vor einer Islamisierung der Notfallpraxis und des weltlichen Rechts. Zum einen sind sämtliche Begleiter selbstverständlich verpflichtet, das Recht zu respektieren und bei seiner Durchsetzung zu helfen. Vor allem aber ist es ein ausgesprochen milder, freundlicher Islam, der da in der Notfallbegleitung praktiziert wird. Das zeigt sich etwa beim Umgang mit muslimischen Suiziden. Selbstmorde sind für traditionelle Muslime noch ein bisschen schockierender als sie es für jeden Angehörigen wären – weil die islamische Tradition, streng ausgelegt, Selbstmördern das muslimische Begräbnis verweigert. Das geht zurück auf einen Prophetenausspruch, nach dem Selbstmörder nicht islamisch beigesetzt werden dürften.

Die muslimischen Theologen in der CIG aber argumentieren, dieser Ausspruch solle nur die islamische Missbilligung des Suizids verdeutlichen, nicht aber in jedem Fall buchstäblich befolgt werden. Schließlich könne kein Mensch wissen, ob der Selbstmörder seine Tat nicht im letzten Augenblick bereut habe. Außerdem habe der barmherzige Gott seine Gebote zum Wohle der Menschen formuliert. Zum Wohl der Angehörigen aber könne kaum beitragen, wenn man ihnen den Herzenswunsch nach einem islamischen Ritual abschlage. Folglich gestalten die Notfallbegleiter auch bei Selbstmördern ein islamisches Ritual, wenn die Angehörigen dies wünschen.

Zudem ist es fester Grundsatz der CIG-Begleiter, ins Zentrum ihrer Arbeit allein das Bedürfnis des Leidenden zu stellen. Will er beten, wird gebetet. Will er oder sie nichts damit zu tun haben, wird selbstverständlich ohne Gebet getrauert, getröstet und vor allem zugehört. Wer dagegen die akute Not nutzen möchte, um zu missionieren, darf in der Notfallbegleitung gar nicht erst anfangen.

Nun könnten Skeptiker argwöhnen, diesen milden Blick auf Notleidende jeden Glaubens hätten allein die Christen in der CIG durchgesetzt. Aber dem ist nicht so. Alle vier größeren Islamverbände unterstützen die Notfallbegleiter. Deren Grundsätze haben die Verbände sogar mitgestaltet – als wollten sie hier ein Vorbild für den Aufbau der muslimischen Seelsorge in Deutschland schaffen.

Quelle: welt

 

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